TIMOTHY SHARP - BARITON

Wieviel Theater im Lied? Ein Versuch

Der heutige Beitrag beschäftigt sich mit einer bekannten Frage, über die ich mir schon viel Gedanken gemacht habe: „Wie viel Gestik und Mimik ist im Liedvortrag noch statthaft, bzw. notwendig?“

Hier ist vielleicht grundsätzlich zu klären, welche sängerische Situation überhaupt in einem Liederabend gegeben ist und inwieweit sie sich von anderen sängerischen Situationen unterscheidet.
Vorweg noch eine kurze Bemerkung: wenn ich im Verlauf vom „Sänger“ im Maskulin spreche, so meine ich hiermit auch Sängerinnen. Ich habe aus Gründen der Einfachheit und  besseren Lesbarkeit dafür entschieden auf Ausdrücke wie: „SängerIn“, oder ein ständiges „Sänger, aber auch Sängerinnen“ zu verzichten. Man möge mir dies nachsehen.

Die sängerische Ausgangssituation in Oper und Oratorium

Wenn ich von „sängerischer Ausgangssituation“ spreche, meine ich die mentale Einstellung auf  die Situation und die jeweilige Herausforderung, der sich ein Sänger gegenüber sieht, wenn er vor Publikum seinen ersten Ton von sich geben bzw. die Bühne betreten soll. Wie er sich in einer solchen Auftrittssituation fühlen und verhalten mag und sich darauf einstimmen kann.

In der Oper oder im Oratorium sind die Ausgangssituationen zumeist klar definiert. So spielt ein Opernsänger eine Rolle in einem Theaterstück. Er erarbeitet diese in der Regel mit einem Regisseur in szenischen Proben und führt sie unter Verwendung von Maske und Kostüm und eines Bühnenbildes auf. Wenn der Sänger auftritt, so eindeutig von vornherein in einer vorgegebenen Situation, Setting, Kostüm und innerhalb der Rolle, die er verkörpert.

Im Oratorium verkörpert er zumeist auch eine oder mehrere Rollen (zum Beispiel den Christus, oder den Elias), oder aber er ist, z. Bsp. als Evangelist, Moderator der Aufführung -wobei der Evangelist im Grunde auch eine Rolle ist, auch wenn er scheinbar außerhalb des Geschehens steht. Allerdings nehmen die Sänger  im Oratorium ihre sängerische Haltung üblicherweise erst in dem Moment ein, in dem sie vom Stuhle aufstehen. Zwischen diesen “Auftritten”, also beim Einnehmen des Sitzplatzes und in den Pausen zwischen den Einsätzen,  sind sie im Grunde in einer stilisierten Form “privat” auf dem Podium. Wenn er sich erhoben und die sängerische Haltung eingenommen hat schlüpft der Interpret in die jeweilige Figur und versucht, hauptsächlich mit stimmlichen und musikalischen Mitteln, die Psychologie hinter den Aussagen und der imaginären “Szene” zu verdeutlichen. Diese angedeutete “szenische Darstellung” wird nochmals dadurch abgeschwächt, dass die Sänger in der Regel die Noten in der Hand halten. Hierdurch ergibt sich in dieser Ausgangssituation mehr ein Charakter der Lesung – im Gegensatz zur szenischen Opernaufführung. Dies ist in der Kirche selbstverständlich gewünscht, da eine Kantate im Gottesdienst in der Regel auch an der Position der “Lesung” steht. Trotz dieses “Lesungscharakters” ist eine sparsame Mimik – vor allem in Kombination mit wirkungsvoll gesetzten Pausen – absolut angebracht und kann helfen die “Szene” zu veranschaulichen. In den Pausen und beim Auftritt und Abgang ist der Sänger zwar auf der Bühne, jedoch privat und nicht in der Rolle.

Die sängerische Ausgangssituation im Liederabend

Im Liederabend haben wir wieder eine etwas andere Situation. Einerseits handelt es sich um ein Solistenkonzert, in dem der Sänger im Mittelpunkt stehen muss und – im Gegensatz zum Opernkostüm – in seiner privaten Konzertkleidung auftritt. Dies ist vor allem bei den Damen oft ein wichtiger Faktor. Man setzt sich also dem Publikum zunächst einmal auf modischer Ebene aus: „Ach schau mal, Hubert: was für ein schönes Kleid…! / “Also, das Frackhemd hätte aber auch besser gebügelt sein können…“; etc. – für mich persönlich eher ein lästiger Umstand, aber leider Tatsache und für die mentale Einstimmung auf einen Liederabend unabdingbar. So steht man als Person und Persönlichkeit – zumindest anfangs – stärker im Fokus. Ich kann nur davor warnen, deswegen beim Auftritt in die Rolle “unnahbare(r) Opernsänger/Diva” schlüpfen, um all dies von sich abprallen zu lassen. Dies führt zu Problemen mit der Einstimmung in den Abend für alle Beteiligten und ist eine „Rolle zu viel“ an einem mit Rollen gefüllten Abend. Doch ich greife voraus…

Lieder sind im Grunde offensichtlich “kleine Dramen in sich”. Oft ist die Rahmenhandlung schon im Text angelegt, mit Zeit und Ortsangabe. Wo dies nicht der Fall ist, gilt es die imaginäre Szene zu finden. Diese gibt die Plattform, um die zentrale Aussage eines Liedes herauszuarbeiten. Denn zunächst einmal ist ein Gedicht immer eine individuelle Aussage einer vor den Leser oder ein Publikum getretenen Person, vergleichbar mit einem Monolog im Schauspiel. Ein paar meiner Interpretationstechniken/ -Hilfsmitteln um diese Aussagen zu finden werde ich im weiteren Verlauf noch vorstellen. Zunächst möchte ich aber noch bei der Prämisse der sängerischen Ausgangsssituation beim Liederabend bleiben.

Der Sänger tritt, im Grunde ähnlich wie im Oratorium, in einer semi-privaten Situation auf (ganz privat ist man vor Publikum logischerweise sowieso nie). Er nimmt sodann, nach der Begrüßung des Publikums und einer kurzen Fokussierungsphase, eine dem Anfangslied angemessene Haltung ein, die vor dem folgenden Lied zugunsten der nächsten Fokussierungsphase wieder aufgegeben wird. Dies wiederholt sich bis zum Ende der jeweiligen Gruppe, bzw. des Programms. Bei einem erzählenden Liedzyklus, wie beispielsweise der “Schönen Müllerin, ist denkbar (und wohl auch angebracht), dass eine grundlegende “Haltung” auch in den Pausen zwischen den Stücken durchgehalten wird.
Wenn ein Liedprogramm gut zusammengestellt ist und eine innere Dramaturgie besitzt, so wird hier innerhalb der Gruppen ein körperlicher Spannungsbogen ebenfalls helfen, das Publikum stärker auf die Lieder zu fokussieren. Doch wie nimmt man eine solche Haltung ein, bzw. wie findet man diese?

Welche Rolle nimmt der Liedinterpret ein und wie entwickelt er sie?

Welche Rolle nimmt der Sänger nun vor und während des Liedes ein? Schon durch die Fragestellung lege ich nah, dass man in eine Rolle schlüpfen muss und eine Figur glaubhaft darstellen soll, die sich dem Publikum auf unterschiedliche Arten vorstellen und entwickeln kann. Der Einstieg ist aufgrund der Kürze eines Liedes oft entscheidend und somit am heikelsten. Wichtig ist es, sich klar zu werden um was für eine Figur es sich handelt und innerhalb welches literarischen Rahmens sie sich bewegt. Hier der Versuch einer Einteilung:

1. Erzählende Liedzyklen
Die Figur wird in der Regel nicht vorgestellt, sondern offenbart sich durch unterschiedliche Aussagen nach und nach. Die Grundhaltung ergibt sich zumeist aus einer (durch den Sänger bei der Vorbereitung) zu eruierenden Vorgeschichte, die erst im Laufe des Zyklus, oftmals Stück für Stück, zutage tritt. Diese ist entscheidend für die Haltung für das erste Stück und absolut endscheidend für das Gelingen eines Liederzyklus. Im weiteren Verlauf kann und muss hier – wie in einem Theaterstück – die psychologischen Wandlungen und Entwicklungen der Hauptfigur portraitiert werden. Hierfür sind hauptsächlich stimmliche und musikalische Mittel wichtig, allerdings auch schauspielerische Techniken in einer kondensierten Form. Diese erläutere ich im weiteren Verlauf des Textes.

2. Gedichteinlagen/ Ausschnitte aus Literatur
(z. Bsp.: Mignon, Faust, u. a. )

Hier ist es selbstverständlich, dass man als Interpret die jeweilige Rolle aus der literarischen Vorlage einnimmt und die jeweilige Vorgeschichte der Figur heranziehen muss, um seine Grundhaltung zu finden. (Es ist also beispielsweise hilfreich, zu wissen, dass Gretchen ihre Mutter vergiftet hat und schwanger ist, wenn sie “Neige, du Schmerzensreiche” singt.) Diese Lieder setzen zwar eine Kenntnis der Materie durch das Publikum voraus, sind aber, so diese gegeben ist, ein guter Einstieg für erste Gehversuche als Liedsänger. Durch die literarische Vorlage erhält man Einiges an Informationen über die zu portraitierende Figur und man kann meistens erwarten, dass das Publikum diese Informationen ebenfalls hatte. Die mimisch-gestischen Mittel werden also höchstwahrscheinlich auf fruchtbaren Boden fallen.

3. Texte aus der Antike/Bibel/Übersetzungen aus anderen Kulturkreisen)

Hier gilt das gleiche, wie beim vorigen Punkt. (Also Studium der literarischen Vorlage als Grundvoraussetzung.) Allerdings ist hier beim Publikum mehr Spezialwissen vonnöten, weshalb diese Lieder seltener gesungen werden, bzw. nur als einzelne Lieder in Gruppen. Oftmals muss man als Interpret davon ausgehen, dass das Publikum nicht den Hintergrund für das Lied hat und sich damit abfinden. Das bedeutet allerdings nicht, dass man weniger Vorbereitung hineinstecken soll. Für den ernsthaften Interpreten bedeuten diese Lieder oft ein hohes Maß an Arbeit, da zusätzlich zum rein thematischen Kreis der Figur noch das Wissen um den jeweiligen Kulturkreis gefragt ist. Zumindest ansatzweise sollte man sich schon mit der griechischen Mythologie auskennen, wenn man sich zum Beispiel mit Schuberts herrlichen Antikenliedern (Memnon/Gruppe aus dem Tartarus/ Fahrt zum Hades/etc.) beschäftigen will. Es ist sonst schwierig Figuren glaubhaft zu verkörpern, die so weit weg von unserem heutigen Leben sind. Aber es lohnt sich!

Bei Übersetzungen aus anderen Kulturen, wie dem Orient, wie es sie massenweise in der Romantik gibt (N.B.: Schuld war eine Orient-Mode im frühen 19.Jh, ausgehend vom Orientalisten Hammer-Purgstaller in Wien), ist es ebenfalls so. Aber auch bei Liedern aus uns nahen Kulturkreisen, wie zum Beispiel dem Italienischen/Spanischen Liederbuch von Wolf sollte man sich etwas in den historisch-kulturellen Hintergrund einarbeiten, auch wenn er nicht so fern liegt. Denn schließlich ist es ja auch von der körperlichen Haltung her ein Unterschied, ob man den Hauptdarsteller der “Winterreise” darstellt, oder einen italienischen Ständchen-Sänger unter dem Fenster der Geliebten, auch wenn die Musiksprache in beiden Fällen typisch deutsch ist.

4. Deskriptive/betrachtende Lieder
Dies ist sicher die heikelste Gruppe, was das Finden der Grundhaltung und die Wahl der geeigneten Präsentationsmittel angeht. Hier gibt es folgende Möglichkeiten zu einem guten Ergebnis zu gelangen: Einmal wäre da die Beschäftigung mit dem Gesamtwerk des Dichters und seiner Biografie. (Beispiel Eichendorff: Wer sich mit seinen Gedichten beschäftigt, findet immer wieder Beispiele von seiner Natur-Phänomenologie, die für ihn fast Religion-Ersatz oder zumindest ein Ergänzung dazu war. Wenn man außerdem weiß, wie viel Zeit er in seinem Leben auf Wanderschaft verbracht hat, kann man spüren, wo diese Inspirationen herrühren mögen.) Man bekommt durch das Lesen der Werke der Dichter ein Gefühl für den Menschen und kann nun versuchen, diesen Menschen zu verkörpern.
Eine weitere meiner Methoden – und eine sehr persönliche – ist es, den Sinngehalt einer Betrachtung über die Zeit seiner Entstehung hinaus für sich zu überprüfen und so eine Verbindung von der Aussage (damals) zu sich selbst (heute) herzustellen. Es entsteht so eine allgemein-menschliche Leinwand, auf der man sich selbst, aber auch jeden im Publikum projizieren kann, der dafür offen ist. Das bedeutet nicht, das man den Text “privat” übermittelt, sondern eben als „leere menschliche Leinwand“, an der alle Zuhörer mitmalen. Das ist ein sehr delikater Prozess, der nur durch Kanalisierung nach Innen erreicht werden kann. Darüber hinaus muss man durch viel Übung dazu in der Lage sein, die Menschen im Publikum auf dem „Weg nach Innen“ mitzunehmen und damit in ihr eigenes Innere zu führen. Dies ist wohl die höchste Form der Liedinterpretation und wird, neben feinst nuanciertem, ausgearbeiteten Gesang durch äußerste Kondensation der Schauspielkunst erreichbar und – vor allem – wiederholbar. Dies ist nicht vielen Sängern gegeben. (Dies meine ich völlig wertfrei.)

5. Balladen

Die Ballade ist für mich das Bindeglied vom Lied zur Oper und zum Oratorium. Bei Balladen ist es besonders wichtig, die “Rollen” sehr eindringlich und klar voneinander abzugrenzen. Denn dies ist das Hauptunterscheidungsmerkmal zum Lied. Während im Lied immer nur eine Person zu Wort kommt, sind es in der Ballade immer mehrere: Zumeist ein “Erzähler” (vgl. der Evangelist) und mehrere Personen in direkter Rede (vgl. ebenfalls Oratorium). Dadurch, dass die Ballade idealerweise auswendig gesungen wird, ergibt sich aber ein viel szenischerer Eindruck, der durch Einsatz von Mimik und sparsamer Gestik noch verstärken lässt. Die Ballade ist für mich der perfekte Einstieg für einen Opernsänger in die Welt des Liedes. Hier kann er vom vertrauten Terrain des opernhaften Ausdrucks durch Reduktion der Mittel zu einem liedhaften Ausdruck finden, der die gleiche opernhafte Suggestivkraft hat, diese aber durch Verinnerlichung erhält.

Somit komme ich zu den Mitteln des Liedsängers.

 

Die schauspielerische Toolbox des Liedsängers.

Wie ich schon zu Beginn aufgezeigt habe, ist die Ausgangssituation im Liederabend für uns Sänger ambivalent. Einerseits sind wir äußerlich eindeutig “privat” (in unserer eigenen Konzertkleidung ) andererseits schlüpfen wir an einem Abend unter Umständen in 20 verschiedene Rollen. Doch mit welchen Mitteln soll man dies im Liederabend zustande bringen?

Jedwede größere Aktion, wie Ducken, weites Herumlaufen oder allzu plakative Gesten verbieten sich von selbst. Dies gilt auch für die Benutzung von Requisiten und Kostüm (-teilen). Alle Versuche dieser Art, die ich bisher gesehen habe, kann ich nur als “peinlich für alle Beteiligten” beschreiben.

Die Hauptmittel des “liedhaften szenischen Ausdrucks” müssen daher die Mimik und die Haltung sein. Ich bin kein Purist, was Gestik anbelangt, anders als beispielsweise der von mir hochgeschätzte Hans Hotter, bei dem ich viel über den Liedgesang lernen durfte. Er hat die Hände komplett verboten. Arme und Hände durften nur locker an der Seite hängen und mussten ansonsten passiv bleiben. So weit würde ich nicht gehen. Allerdings ist es entscheidend, dass man Gesten im Lied sparsam und mit äußerstem Bedacht einsetzt. Jede Geste, die nichts bedeutet, stört.
Bei Balladen sehe ich dies etwas weniger streng, aber auch hier sollte man Gestik nur unterstreichend verwenden und nicht in eine allgemeine Handfuchtelei verfallen. Diese gehört allenfalls in den Überaum, um die Stimme zu befreien. Doch sicher nicht auf das Podium.

Augen und Blick

Die Augen und im Besonderen der Blick sind ein sehr wichtiges schauspielerisches Mittel im Liedgesang. Die Augen sind bekanntlich das Tor zur Seele. Deshalb bin ich hier einmal Hardliner und behaupte, dass man die Augen beim Singen fast nie schließen sollte. (Die einzige Ausnahme, die mir spontan einfällt ist vielleicht im „Frühlingstraum“ in der Winterreise bei den Zeilen „Die Augen schließ ich wieder, noch schlägt das Herz so warm“ – vielleicht bei einer Wiederholung) Man beraubt sich durch Schließen der Augen sonst eines wichtigen Ausdrucksmittels, des Blickes.

Bei Balladen lässt sich beispielsweise durch das Ändern der Blickrichtung ein Wechsel der Figur oder ein Szenenwechsel einfach und wirkungsvoll erzeugen. Man kann durch einen plötzlichen Blickwechsel einen Einfall suggerieren, so wie Nachdenklichkeit oder Furcht. Es gibt da eine riesige Palette an Emotionen, die sich durch den Blick andeuten oder klar aufzeigen lassen.

Mimik

Doch da kommen wir auch schon in das Feld der Mimik. Wenn wir auf szenische “Aktionen” verzichten, dann ist neben dem Blick der richtige Gesichtsausdruck sicher das stärkste Mittel in der Liedinterpretation. Wie zu Anfang schon angedeutet, ist es das A und O, die richtige Haltung zu Beginn eines Stückes einzunehmen, von der aus man das Mini-Drama entspinnen kann. Das ist wichtig für den Interpreten und für das Publikum. Und zur inneren Haltung (ich spreche nicht von Körperhaltung) gehört in höchstem Maße der Gesichtsausdruck. Mit einer bedachten, exakten Mimik kann man nicht nur die Worte unterstreichen, sondern die “seelische Haltung” des Protagonisten offenbaren, was oft wesentlicher ist. Diese kann unter Umständen der Aussage widersprechen oder sie konterkarieren. Hierdurch kann eine Subtextebene eröffnet werden, die das Publikum nachhaltiger beschäftigt und in das Lied „hinein saugt“.

Ich will das anhand eines Beispiels mit der Emotion „Trauer“  kurz erläutern: Wenn ich ein trauriges Lied mit einem durchgehend traurigen Gesichtsausdruck singe, beispielsweise Nr. 1 aus den Kindertotenliedern, dann sieht das Publikum in mir einen traurigen Menschen, der (zurecht) lamentiert. Wenn ich hingegen ein Gesicht aufsetze, das mehr staunende Fassungslosigkeit sowie positive Gefühle gegenüber der Sonne und dem, was sie für die Welt bedeutet, ausdrückt (natürlich unterbrochen von den Schmerzensausbrüchen), dann sieht das Publikum einen Menschen, der mit seinen Gefühlen kämpft und der hilflos seinen Trost sucht. Die Fallhöhe zwischen Realität (zwei tote Kinder) und dem Heilswunsch an die Sonne, der Trösterin der restlichen Welt, lässt einem vor Mitgefühl das Herz brechen. Die Wirkung auf das Publikum ist also viel stärker.
Wer hat nicht schon einmal ein Interview mit alten Kriegsveteranen gesehen, die scheinbar abgeklärt und tapfer von allen erlebten Greueln erzählen und bei denen ganz plötzlich die Fassade fällt und das ganze Ausmaß der Trauer zutage tritt. Für mich jedes mal ein höchst anrührendes Erlebnis und der Inbegriff von Traurigkeit!

Ein guter Leitsatz könnte sein: Richtig traurig ist es, einen Menschen zu sehen, der seine Gefühle nicht zeigen möchte, bei dem sie aber – quasi ungewollt – durchscheinen.

 Schauspielkunst und Liedkunst

Hier befindet man sich auf jeden Fall auf dem Terrain der Schauspielkunst und somit kann ich zurück zur Grundfrage kommen: Wie viel Theater im Lied?

Antwort: Auf jeden Fall sehr viel, aber mit kondensierten Mitteln. Die Techniken, die ein guter Liedinterpret anwenden muss, sind viel subtiler, eher vergleichbar mit den Mitteln des Filmschauspielers. Gerade die Theorien der Stanislawski-Technik und von Lee Strasberg haben mich diesbezüglich als Liedsänger (natürlich auch als Opern-Sängerdarsteller) enorm weiter gebracht.
Stellvertretend möchte ich eine Technik beschreiben, die man sofort anwenden kann und die einem Liedsänger hilft, seine Haltungen zu sortieren. Es geht um die “Circles Of Attention” von Stanislawski.

Circles Of Attention

Die Theorie dahinter besagt, dass wir uns im Alltagsleben immer in drei Zirkeln der Aufmerksamkeit bewegen:

  • Zirkel 1: Wir sind allein (Aufmerksamkeit auf sich)
  • Zirkel 2: Wir sind mit einer Person zusammen (Aufmerksamkeit auf ein Gegenüber)
  • Zirkel 3: Wir befinden uns in der Öffentlichkeit (Aufmerksamkeit auf die Umgebung)

Alle anderen Konstellationen entstehen durch rasche Abfolge oder Mischung der Zirkel.

Zum näheren Verständnis ein paar Anwendungsbeispiele:

Wir betreten ein Restaurant voller fremder Menschen (Zirkel 3), wir erblicken unser Rendezvous an einem Tisch und grüßen von weitem (Zirkel 2), wir sitzen mit ihm/ihr am Tisch und reden (Zirkel 2), der Kellner nimmt die Bestellung entgegen (rasche Abfolge/Überschneidung von Zirkel 2 mit Kellner/Rendezvous), das Gegenüber verlässt den Tisch und lässt uns einen Abschiedsbrief zurück, den wir fassungslos lesen (Zirkel 1).

Diese Zirkel helfen eminent beim Finden der verschiedenen Haltung(en) im Lied, gerade zu Beginn. Ein Anwendungsbeispiel im Lied.

Beispiel “Erlkönig”: Der Erzähler befindet sich in Zirkel 3, wenn er dem Publikum die Situation beschreibt. Der Vater und der Sohn und der Sohn und der Erlkönig befinden sich in jeweils separaten Zirkeln 2.

Ein anderes probates Mittel ist der Wechsel des Zirkels bei musikalischen Wiederholungen. Im „Erlkönig“ zum Beispiel: wenn man als Vater bei der Wiederholung von „In dürren Blättern säuselt der Wind“ vom zweiten in den ersten Zirkel wechselt und aus dem Satz quasi ein „Mantra“ macht. Wiederholungen findet man oft bei Strophenliedern, was immer eine Herausforderung für den Interpreten ist, will er interssant und glaubhaft bleiben. Ein gutes  Beispiel hierfür ist die „Schöne Müllerin“. Nehmen wir den „Morgengruß“. Der Müllersknecht befindet sich durchgängig in einer Art Zirkel 2 (auch wenn man nicht weiß, ob er tatsächlich vor ihrem Fenster steht und sie anschmachtet, oder ob das Wunschdenken ist), nämlich im Gespräch mit der Müllerin. Bei der Stelle: “So muss ich wieder gehen” kommt er allmählich in den ersten Zirkel. Das letzte “wieder gehen” ist eigentlich nur zu sich selbst gesprochen. Er horcht quasi seinen eigenen Gefühlen nach. Das Publikum und die Müllerin sind komplett ausgeklammert.

Diese Technik kommt zwar aus dem Schauspiel, ist aber komplett losgelöst von irgendwelchen Bewegungen. Die gesamte Haltung ergibt sich aus einer innerlichen Einstellung, die es nun gilt in äußerliche Anzeichen umzuwandeln. Dies geschieht allerdings wahrhaft aus sich heraus, ohne etwas zu “demonstrieren”.

Hier endet meine allgemeine Beschreibung, da jeder Mensch andere Mittel und Erfahrungen hat, um seine Gefühle und Einstellungen zu zeigen. Diese muss jeder für sich oder in Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Coach finden und sich anschließend daran gewöhnen, diesen Pool an Erfahrungen bei Bedarf „anzuzapfen“.

Hilfreich kann es sein, ein kleines Notizbuch bei sich zu führen, in das man Gefühle oder Situationen aus dem eigenen Leben niederschreibt, die menschlich allgemeingültig sind, oder die an Situationen aus Liedern erinnern. Ich kann mich beispielsweise gut an eine Situation erinnern, in der ich ein Hotelzimmer hatte, dessen Fenster auf einen Friedhof hinausgingen. Ich fühlte mich sofort an Brahms “Auf dem Kirchhofe” und das “Wirtshaus” aus der Winterreise erinnert und sog diese Gefühle in mir auf. Wenn ich heute eins der genannten Lieder singen möchte, habe ich ein klares Bild vor dem inneren Auge, das mir hilft die richtige Haltung zu finden.

Wir alle haben die meisten Erfahrungen und Eindrücke, von denen in Gedichten die Rede sind, schon einmal gemacht, oder wir machen sie im Laufe des Lebens. Man muss nur seine Antennen aufspannen und versuchen wach durchs Leben zu gehen, ohne sie zu verpassen. So kann man die gleichen Gefühle und Gedanken haben, wie die Dichter vor langer Zeit und diese Gefühle dem Publikum im Liederabend transportieren. Was für eine dankbare Aufgabe!

Ich ermuntere jeden, sich einmal auf solche Betrachtungen einzulassen. Es erweitert den eigenen Horizont beträchtlich und macht uns zu besseren Menschen und (Lied-)Sängern.

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